Ende des Jahres las ich in der New York Times einen Artikel über den dänischen Fußballclub FC Midtjylland, den aktuellen Tabellenführer in der dänischen Superliga. Dabei fühlte ich mich an einen Blogbeitrag („Moneyball HSV“ in der Rautenperle) erinnert, in dem ich dafür plädierte, dass der HSV sich auf allen Ebenen professionalisiert und sich stärker auf Psychologie und Datenanalyse stützt, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. In dem „NYT“-Artikel wird beschrieben, dass der FC Midtjylland den Vorteil hat, ein relativ junger Verein zu sein. Er wurde erst 1999 gegründet und hat somit nicht – wie der HSV – die Last einer glorreichen Vergangenheit zu tragen. So ist man sehr offen dafür, neue Dinge auszuprobieren und Sätze wie „Das haben wir früher auch nicht gemacht!“ hört man dort nicht.
Intensivierung des Trainings
Das erste, was Midtjylland gemacht hat, war die Trainingsintensität zu erhöhen. Außerdem hat man das Trainingsprogramm individualisiert, angepasst. Nicht nur auf die individuellen Defizite, sondern auch auf die Position des Spielers. Abwehrspieler erhielten z.B. intensive Kopfballtrainings bei Standardsituationen, Außenverteidger gezieltes Sprinttraining, etc. Ein weiterer Schwerpunkt war die Optimierung der Ernährung und der Erholungsphasen (Schlaf). Außerdem bemüht sich der Verein, Spieler möglichst in jungen Jahren in die vereinseigene Ausbildung zu bekommen, weil man zu der Erkenntnis gekommen ist, dass man möglichst früh mit der Ausbildung beginnen sollte. Der Unterschied zwischen einem Spieler, der mit 16 in die Ausbildung des Vereins geht und jeden Tag 2 Stunden trainiert und einem, der mit 14 in das Fußballinternat geht und jeden Tag 4 Stunden Training und Fußball-Schulung (Taktik, Ernährung, Mentaltraining) erhält, ist groß: wenn die beiden Spieler mit 19 Jahren in den Profibereich kommen, hat der erste Spieler 1.500 Trainingsstunden absolviert und der zweite über 5.000 Stunden (laut einer bekannten psychologischen Untersuchung wird man richtig gut in einer Sache, wenn man sie 10.000 Stunden geübt hat).
Standardsituationen machen den Unterschied
Das Management von Midtjylland (die Herren Gravesen, Berg und Ankersen) ist besessen von der Idee, den Verein und die Mannschaft permanent effektiver zu machen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Trainieren von Standardsituationen: Midtjylland hat in den letzten 5 Jahren so viele Tore aus Standardsituationen erzielt wie sonst kein dänischer Verein, insgesamt ein Viertel aller Tore. Man ist davon überzeugt, dass die Effektivität bei Standardsituationen in Zukunft der entscheidende Unterschied zwischen guten und sehr guten Mannschaften sein wird – der Meinung ist übrigens auch Ralf Rangnick, der dafür sorgt, dass die RB-Mannschaften Abläufe bei Standardsituationen so lange trainieren, bis sie automatisiert sind.
Basketball als Vorbild
In der NBA, der amerikanischen Basketball-Liga, hat sich das datengestützte Training schon seit Langem durchgesetzt. Eine der Konsequenzen war, dass heute die Mehrzahl der Korbwürfe aus einer Zone kurz hinter der 3-Punkte-Linie erfolgt. Man hat durch Analyse der Daten festgestellt, dass hier die Wahrscheinlichkeit am größten ist, Punkte zu erzielen. Midtjylland analysiert in ähnlicher Weise Spielsituationen: In welcher Position ist die Wahrscheinlichkeit für ein Tor bei einem Schuss am wahrscheinlichsten? Welche Pässe führen am häufigsten zu Torabschlüssen? Das Gute beim Fußball ist, dass die statistischen Informationen darüber offenliegen, man muss sie nur analysieren. Der kritischste Punkt ist jedoch nicht die Analyse selbst, sondern die Vermittlung der Erkenntnisse an die Spieler – hier sind Psychologen gefragt.
Psychologie als Wettbewerbsvorteil
Midtjylland hat deshalb B. S. Christiansen, einen Psychologen engagiert, der rund um die Uhr für die Mannschaft zur Verfügung steht, um mit Spielern zu sprechen. Dieses Konzept hat der Verein vom FK Bodø/Glimt übernommen, einem norwegischen Verein, der kurz nach dem Aufstieg in die 1. Norwegische Liga im letzten Jahr Meister wurde. Betreut wurde Bodø/Klimt von Bjørn Mannsverk, einem bekannten norwegischen Psychologen, der den gesamten Verein auf Leistung (und nicht etwa nur auf Ergebnisse) ausgerichtet und der Mannschaft geholfen hat, sich zu einem Hochleistungsteam zu entwickeln.
Midtjylland beschäftigt sich genauso intensiv mit den Persönlichkeiten der Spieler wie mit deren technischen Fähigkeiten. Wie einer der Vorstände von Midtjylland sagt, „wir sehen den gesamten Menschen, nicht nur den Spieler“.
Im Moment läuft von Midtjylland initiiert eine Studie, in der der Verein gemeinsam mit Arbeits- und Organisationspsychologen herausfinden will, was die Persönlichkeitsmerkmale von erfolgreichen Spielern sind. Das ist ein Ansatz, der in der Arbeitspsychologie weit verbreitet ist – für viele Aufgaben und Funktionen im Arbeitsleben weiß man heute recht genau, welche Persönlichkeitsausprägungen erfolgreiche von weniger erfolgreichen Mitarbeitern unterscheiden.
Was ich beeindruckend an Midtjylland finde, ist seine Offenheit, neue Dinge auszuprobieren. Vieles von dem, was Midtjylland als erster ausprobiert hat, wird heute von anderen Vereinen nachgemacht. Ich fühlte mich auch bestätigt in meiner Einschätzung, dass der HSV großes Potenzial hat, sich durch konsequente Professionalisierung, Nutzung von Daten und psychologischen Erkenntnissen von anderen Vereinen abzuheben und sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Gerade dann, wenn man die Qualität der Mannschaft nicht mehr durch den Kauf guter (= teurer) Spieler verbessern kann, sollte das Prinzip sein, die vorhandenen Ressourcen möglichst optimal zu nutzen. Spätestens wenn der HSV nächste Saison wieder in der 1. Bundesliga spielt, wird man nicht umhinkommen, aus dann vergleichsweise durchschnittlichen Spielern ein Hochleistungsteam zu formen.
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